Liebe Leserinnen und Leser,
mein erstes richtiges Jahr als Bundestagsabgeordnete liegt nun hinter mir. Ich kann gar nicht richtig glauben, dass das Jahr schon wieder vorbei ist. Für mich und für viele meiner Kolleginnen und Kollegen war es ein außergewöhnliches und turbulentes erstes Jahr im Bundestag. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie haben wir alle gehofft, dass wieder Normalität einkehrt. Doch der 24. Februar hat vieles verändert. Plötzlich standen die Themen Sicherheitspolitik, Waffenlieferungen, Energiesicherheit, Inflation und hohe Energiepreise auf der parlamentarischen Tagesordnung. Drei Tage nach Beginn des Krieges machte unser Bundeskanzler im Rahmen einer Sondersitzung des Bundestages deutlich, dass wir angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft umdenken müssen. Zeitenwende war das Wort der Stunde.
In seiner unglaublich starken Rede erklärte Olaf Scholz nichts anderes als die Neuausrichtung unserer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Und das bedeutet, dass wir deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren müssen, um unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. 100 Milliarden Euro werden wir in den nächsten Jahren für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben bereitstellen und jährlich mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren.
Es gab in diesem Jahr fast kein Thema, das die Medienlandschaft und die Menschen in unserem Land so sehr beschäftigt hat wie die Frage der Energiesicherheit. Wir alle haben die Auswirkungen dieses Krieges und die Folgen unserer Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu spüren bekommen. Unter Hochdruck haben wir das ganze Jahr daran gearbeitet, Bürgerinnen und Bürger sowie unsere Wirtschaft zu entlasten und die hohen Energiepreise zu deckeln.
Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass wir unsere Konzepte zur Energieunabhängigkeit, zur Diversifizierung von Importländern und zur Versorgungssicherheit anpassen müssen. Was vor dem Krieg bereits klimapolitisch richtig war, ist nun auch sicherheitspolitisch von zentraler Bedeutung. Perspektivisch muss Deutschland insgesamt unabhängiger werden von fossilen Energieträgern. Mutige Politik hat unser alter Koalitionspartner lange blockiert. Wir haben es angepackt und mit unserem Koalitionspartner haben wir starke Kompromisse gefunden, wie das sogenannte Osterpaket zeigt: Wir haben das Ausbauziel erneuerbarer Energien für 2030 von 65 % auf 80 % angehoben, wir stärken den Hochlauf neuer Technologien wie Wasserstoff und Beschleunigung die Planungs- und Genehmigungsverfahren, damit der Umstieg auf Windund Solarenergie auch gelingt.
Als Umweltpolitikerin und Berichterstatterin zum Bundesnaturschutzgesetz habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen maßgeblich an einem Kompromiss zwischen Artenschutz auf der einen Seite und dem Ausbau erneuerbarer Energien auf der anderen Seite mitgearbeitet. Es war sicherlich nicht leicht, aber mit der Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz haben wir den Weg für den dringen benötigten schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien frei gemacht.
Und auch wenn das Jahr politisch geprägt war vom Krieg und dessen vielschichtigen Folgen, haben wir in diesem Regierungsjahr viel geschafft. Im November haben wir nach langen und intensiven Verhandlungen den Bundeshaushalt 2023 beschlossen. Wenn man sich den Haushalt anschaut, erkennt man schnell, dass wir in einer Krisensituation stecken: das „Sondervermögen Bundeswehr“, die Energiepreispauschale, hohe Pandemieausgaben. Aber wir haben gemeinsam mit unseren Koalitionspartnern einen Haushalt aufgestellt, der nicht nur kurzfristige Krisenbekämpfung beinhaltet, sondern auch die notwendige Transformation unserer Gesellschaft und Wirtschaft sowie den Klimaschutz flankiert.
Für mich persönlich sind die Ergebnisse, die wir im Umweltschutz erreicht haben, ein ganz besonderer Erfolg. Die Mittel, die wir für den natürlichen Klimaschutz im Energie- und Klimafonds bereitstellen, zeigen, dass wir den Artenschutz ernst nehmen und mit dem Klimaschutz gemeinsam denken. Förderprogramme wie für Auenrenaturierung, chance.natur und das Bundesprogramm Biologische Vielfalt können ab kommendem Jahr besser in Anspruch genommen werden. Dafür habe ich mich in den Verhandlungen persönlich eingesetzt. Wir haben nicht nur bürokratische Hürden abgebaut und den Eigenanteil auf 10% verringert, sondern haben auch dafür gesorgt, dass die Schutzmöglichkeiten für unsere heimischen Zugvögel erweitert werden, um dem Artenverlust vorzubeugen.
Trotz dieser schwierigen Zeit haben wir auch im Bereich Arbeit und Soziales viel erreicht. Wir haben den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht, wir haben die finanzielle Anerkennung von Pflegekräften, eine umfassende BAföG-Reform, einen Sofortzuschlag zur Kindergrundsicherung und eine Rentenerhöhung auf den Weg gebracht. Aber nicht nur das. Jahrelang haben wir uns dafür eingesetzt, unseren Sozialstaat auf die Höhe der Zeit zu bringen. Weniger Bürokratie, deutlich höhere Regelsätze, bessere Arbeitsvermittlung, einen stärkeren Fokus auf Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung sowie einen neuen Umgang mit Respekt waren dabei unser Leitbild. Doch unser alter Koalitionspartner hat sich vehement gegen eine Reform unseres Sozialsystems gesträubt und das, obwohl das alte System offenkundig nicht in der Lage war, Menschen mit geringer oder fehlender Qualifikation langfristig auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Statt ständig wechselnder Hilfsarbeiterjobs und Leiharbeit wollen wir Menschen endlich besser qualifizieren und damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Mit dem neuen Bürgergeld, das ab dem 1. Januar in Kraft tritt, wird dies endlich umgesetzt und die Regelsätze werden erhöht.
Auch die Wohngeldreform zum 1.1.2023 sorgt dafür, dass künftig mehr Menschen vom Wohngeld profitieren – ganz besonders auch Rentner. Eine integrierte Heizkostenpauschale soll zudem regelmäßige Zuschüsse zu den Energiekosten liefern und ein befristeter Kündigungsausschluss soll finanziell überforderte Mieter davor schützen, ihre Wohnung zu verlieren. Für viele Menschen in unserem Land bedeuten diese Änderungen spürbare Verbesserungen im kommenden Jahr.
Neben all den vielen Ausschuss-, AG- und Fraktionssitzungen, den Plenardebatten, den parlamentarischen Verhandlungen, den namentlichen Abstimmungen und den vielen Podiumsdiskussionen waren die drei Auslandsreisen, die ich in diesem Jahr machen durfte, ein besonders schönes Highlight. Meine erste Reise führte mich im Juni gemeinsam mit Mitgliedern des Umweltausschusses nach Schweden. Ein Land, das bereits 60 Prozent seines Energiebedarfs mit erneuerbaren Energien deckt. Vor Ort konnten wir uns selbst ein Bild von einem der größten Biomasse-Blockheizkraftwerke Europas machen, wo CO2-neutrale Abfälle aus der regionalen Holzwirtschaft zur Energiegewinnung genutzt. Ebenso haben wir uns mit verschiedenen Akteuren über Genehmigungsverfahren, die Endlagersuche für radioaktive Abfälle sowie über die nukleare Sicherheit in Schweden unterhalten. Eines ist dabei vor allem im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern aus der Gemeinde Östhammer, dem Atommüllendlager, deutlich geworden, die Menschen in Schweden haben ein anderes Verhältnis zur Atomkraft.
Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung reiste ich wenig später nach Seoul, wo ich in der Bildungsstätte des Wiedervereinigungsministeriums am Seminar „Erfahrungen mit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung“ teilnehmen durfte und über meine ganz persönlichen Erfahrungen der Wendezeit gesprochen habe. Das Land hat eine so bewegende Geschichte, die mich an vielen Stellen an die deutsche Teilung erinnert hat. Es war eine spannende Reise mit vielen verschiedenen Eindrücken in einer atemberaubenden Millionenstadt.
Im Oktober flog ich dann gemeinsam mit meinen Bundestagskollegen Karamba Diaby, Timon Gremmels und Jakob Blankenburg im Rahmen der Climate-Tech-Delegation der gemeinnützigen und unabhängigen Organisation ELNET nach Israel. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der französischen Assemblée Nationale, haben wir mit verschiedenen Experten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft über die Herausforderungen der Klima- und Energiepolitik gesprochen. Israel ist ein unglaublich faszinierendes Land mit einem außergewöhnlichen Innovationsgeist insbesondere im Bereich der Agrarwirtschaft und des Umweltschutzes und einem starken Hightech-Standort. Die letzten 12 Monate waren sehr arbeitsintensiv, aber ich habe in dieser Zeit so viele interessante und bereichernde Gespräche geführt, – egal ob mit Wissenschaftlern oder Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Eine stets willkommene Ablenkung in meinem Arbeitsalltag waren die vielen Gespräche mit Besuchergruppen, Schulklassen und Bürgerinnen und Bürgern aus meinem Wahlkreis. Gerne habe ich mich über die politische Lage ausgetauscht, Kritik und Anregungen an Vorhaben aufgenommen und in meine Arbeit einfließen lassen. Das gleiche gilt für die vielen Gespräche, die ich in den Unternehmen in meinem Wahlkreis geführt habe. Ich habe nicht nur meinen Wahlkreis und die vielen Betriebe besser kennengelernt, sondern konnte mich auch den Problemen annehmen.
Zu guter Letzt möchte ich mich bei den Leserinnen und Lesern und all den Menschen bedanken, die es mir ermöglicht haben, meine Expertise im Bundestag einzubringen und die mich und meine Arbeit unterstützen. Auch wenn meine Arbeitstage lang sind und erst am späten Abend enden, bin ich dankbar für diese bereichernde und spannende Zeit.
Ich wünsche allen einen guten Rutsch und ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr.
Dr. Franziska Kersten, MdB